Ein Lob der Armut

von Harald Martenstein

Wir stellen Texte vor, die für unsere einmalige Stadt geschrieben worden sind. Die Gedanken und Haltung von Autoren, die Berlin sehen, fühlen und gestalten. Heute von Harald Martenstein, deutscher Journalist, Preisträger und Autor, der sich selbst vornimmt „ohne Vorurteile die Welt anzuschauen und auch das eigene Weltbild zu hinterfragen“. Link zu Harald Martenstein

Muss man einen großen Geländewagen haben? Eine kleine Wohnung für viel Geld? Arbeit statt Sex? Wohl eher nicht. Ein Lob der Armut.

Warum ist Berlin eine großartige Stadt? Warum wollen wir hier leben und nirgendwo anders? Wer diese Frage stellt, zum Beispiel auf einer Party in Berlin-Mitte, -Friedrichshain oder -Kreuzberg, wird ungefähr die folgenden Antworten erhalten: Die Kunstszene, die Kultur. Spannende Leute. Das Nachtleben. Wenn du raus fährst, bist du sofort im Grünen. Überhaupt, eine unglaublich grüne Stadt, die Parks und die Seen. Die Wohnungen sind immer noch billiger als in anderen Metropolen. Berlin die Metropole in der du billig leben kannst. Die Stadt ist offen, sie nimmt dich schnell auf, nach ein oder zwei Jahren ist es, als seist du schon immer hier gewesen. Dazu das Multikulturelle! Jeder Stadtteil ist anders. Und so weiter.

Alles, wirklich alles, was Berlin attraktiv macht, hängt damit zusammen, dass Berlin eine arme Stadt ist und es immer war. Diese Aussage gilt auch für das, was man "Natur" zu nennen sich angewöhnt hat. Das Umland ist grün und ländlich, weil Berlin in einer Gegend ohne nennenswerte Bodenschätze liegt, es gibt keinen mit London oder Paris vergleichbaren industriellen Speckgürtel, weil nach dem Mauerfall die Industrie und der Handel nicht nach Berlin zurückgekommen sind, dafür heute viele Start-ups. Die Seen sind oft genug deshalb entstanden, weil in Berlin mit billigem Torf geheizt wurde, die Parks gibt es deshalb, weil das Berliner Proletariat des 19. Jahrhunderts in dunklen Mietskasernen zusammengepfercht war und weil seine Herren kein Interesse daran hatten, dass ihr Proletariat ihnen nach kurzer Zeit verreckte. Dass die im Verhältnis günstigen Wohnungen, die günstig sind, weil Berlin "arm" ist, mit der "jungen, kreativen Szene" und der Multikultur zusammenhängen und diese wiederum mit dem Nachtleben, begreift man sofort.

Kaiser Wilhelm II und Wilhelm der I

Reiche Städte sind langweilig, weil sie nicht so viel Freiraum für Paradiesvögel und Neuankömmlinge bieten, sie schotten sich ab, weil sie etwas zu verlieren haben. Reiche Städte können sich Experimente nicht leisten. Sie haben eine schlechtere Lebensqualität, allein schon wegen der teuren, kleinen Wohnungen. Deswegen sind sogar einige der härtesten München Fans aus München weggezogen (und veröffentlichen dann, in Berlin selbstverständlich, Anti-Berlin-Bücher), deswegen war New York, wie mir Experten versichern, auf dem besten Weg dazu, langweilig zu werden. Vielleicht rettet der Brexit London.

Berlin ist nicht "arm, aber sexy". Berlin ist sexy, weil es arm ist. Wer auf diesen Zusammenhang hinweist, von dem heißt es natürlich, er sei ein Zyniker. Und es ist ja wahr - so angenehm die Armut Berlins für diejenigen ist, die hier studieren oder ein Theater gründen oder einen Modeladen eröffnen wollen, so unangenehm ist die gleiche Armut für den Langzeitarbeitslosen, der sich auf dem Marheinekeplatz mit Hilfe von Hartz IV zu Tode trinkt... nein halt: Stimmt das denn? Der Arme ist nicht einsam in Berlin. Er steht nicht am Rand der Gesellschaft, sondern bildet eine ihrer tragenden Säulen. Der Arme findet in Berlin eine Infrastruktur aus billigen Kneipen, Wärmestuben, Armenrestaurants und Benefizveranstaltungen vor. Ganze Stadtviertel gehören den Armen, dort muss sich keiner seiner Armut etwa schämen. Es ist nicht schön, arm zu sein, aber auch für Arme ist Berlin eine angenehmere Stadt als München.

Graffiti-Hauptstadt der Welt

Fast immer im Leben hat das Angenehme unangenehme Nebenwirkungen, und umgekehrt. Fast immer musst du dich entscheiden. Du kannst kein Leben des Rausches führen und dabei hundert werden, du kannst nicht Kinder großziehen und dich an der Geborgenheit einer Familie erfreuen und gleichzeitig ein wildes Partyleben führen, du kannst nicht gleichzeitig einen Sportwagen und einen Campingbus fahren. Du kannst nicht in einer reichen Stadt leben, die "total spannend" und "wahnsinnig offen für Neues" ist.

sprichwörtliches Stadtbild

Nicht immer sind arme Städte angenehm. Sie müssen schon groß sein, groß genug, darin unterzutauchen, groß genug für Theater und Konzerte, groß genug für zwei oder drei Reichenviertel, denn ein paar Reiche muss es ja geben, damit nicht alles völlig herunterkommt, groß genug, um Sitz einer Regierung oder eines Fürsten zu sein, das bringt Renommee und sorgt dafür, dass die öffentlichen Einrichtungen - Straßen, Schulen - in ihrem Zustand nicht unter einen gewissen Mindeststandard sinken. Die Armut dagegen darf nicht zu groß sein, nicht wie in Accra oder Kalkutta, dort, wo gehungert wird, wo man Lumpen trägt und in Pappkisten schläft, kann man die Armut nicht loben, man wird sie auch eher "Elend" nennen.

Mark und Pfennig

Angenehm ist die Armut dort, wo es früher einmal bürgerlichen oder adeligen Reichtum gab, mit der entsprechenden architektonischen Erbschaft, wo der Staat sich noch sorgt, wo er noch ein paar väterliche Gefühle für die Armen aufbringt, damit sie nicht gezwungen sind, zu rauben und zu morden, um an ihre Dogen zu kommen, wo der Staat den Müll von den Straßen schafft und, ja, auch Polizisten bezahlt. Umweltkatastrophen - die Luft in Mexiko City! - können arme Städte unerträglich machen. Eine gute arme Stadt liegt in einem reichen, funktionierenden Land, einem Land voller Gesetze, Traditionen und Prinzipien, die in der armen Stadt aber in ihrer Wirkung auf ein erträgliches Maß abgeschwächt werden, so dass die arme Stadt sich zwischen Ordnung und Chaos, verfall und Aufbau im exakten Gleichgewicht befindet, ewig unterwegs ohne zu wissen wohin, eine Baustelle, auf der meistens die Arbeit ruht, wie Berlin. In der armen Stadt wiegt der Makel des Scheiterns weniger schwer. Das ist menschlich an ihr. Wer hat schon Geld? Kaum jemand. Braucht man Geld? Nicht viel davon. Scheitern gibt es eigentlich nicht, wenn Armut ein Normalfall ist, der niemandem auffällt. Es gibt nur da Ausbleiben des Erfolges. In Berlin wird derjenige, den der Erfolg verlässt, in seinem Milieu nicht so leicht verstoßen. Außerhalb der dünnen, aus München oder Bonn importierten Oberschicht von Berlin ist es sehr einfach, auf einer Party, inmitten von höheren Staatsdienern und arrivierten Künstlern, jemanden zu treffen, der eigentlich gar nichts macht und trotzdem nicht mehr jung ist.

Marmelade

Wer arm ist, stirbt früher, aber meist nicht an Hunger und Kälte. Die Armen rauchen und trinken viel, man sagt: sie haben sonst nichts vom Leben. Das passt nicht zu der heimlichen Sehnsucht vieler Reicher. Die Armen sind fast überall auf der Welt für die Erfindung der Nationalgerichte, für die ekstatischen Feste und für die Popmusik zuständig. Nie werden die Reichen den Verdacht los, dass die armen Nichtstuer vielleicht das bessere Leben führen, ein kurzes, aber wildes Leben ohne Triebverzicht, ohne Disziplin, ohne Angst vor Abstieg und all die anderen Stimmungskiller. Zu den Standardwarnungen gehört der Satz, man dürfe die Armut nicht romantisieren. Dieser Satz wird deswegen so oft verwendet, weil die Versuchung, genau dies zu tun, groß ist.

Stadtsoziologen erklären, wie in fast jeder Stadt die Armut ein Durchgangsstadium ist, auf dem Weg eines Viertels in den Reichtum. Zuerst ist die Armut da, dann werden die billigen Wohnungen von der Bohème und der Jugend erobert, die das Viertel hübsch und unterhaltsam machen, am Ende kommt das Bürgertum, vertreibt die Bohème, übernimmt das Viertel und verwandelt es, wie Schwabing oder Prenzlauer Berg, in ein historisches Zitat, eine Kulisse, in der neue, reiche Bewohner die arme Vergangenheit des Viertels nachzuspielen versuchen. So funktioniert es fast überall, aber Berlin ist zu groß, um jemals ganz übernommen zu werden. In Kreuzberg zum Beispiel herrscht seit Jahrzehnten ein stabiles Gleichgewicht zwischen Migranten, erfahrungshungriger Jugend und Post-68er-Bürgertum, keiner Gruppe gelingt es, Kreuzberg ganz für sich zu gewinnen. Manche Gegenden sind reich geworden, wie Prenzlauer Berg, andere verarmen dafür, wie Teile von Reinickendorf oder Spandau. Unaufhörlich strömen Arme nach Berlin, Studenten, erfolglose Künstler, Flüchtlinge, Abenteurer. Sie sind zu viele, die Reichen werden immer zu wenige sein. Berlin wird niemals reich sein, das heißt, wir ziehen nie weg.

Ein Lob an die Armut